Hauch der Verdammnis John Saul Der junge Michael Sundquist und seine Mutter Katharine, eine Anthropologin, übersiedeln für einige Monate nach Hawaii, wo Katharine durch Vermittlung ihres ehemaligen Studienkollegen Rob einen interessanten Auftrag erhalten hat: Auf der Insel wurde das Skelett eines Frühmenschen gefunden, was allen bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Besiedelung widerspricht. Katharines Auftraggeber ist ein japanischer Industrieller, der ein unerklärliches Interesse an diesen Forschungen hat. Während Katharine via Internet versucht, weitere Informationen zu diesem Rätsel zu bekommen und dabei auf ein unerklärliches Video stößt, das den ehemaligen Besitzer des Skeletts, eine Art Affenmenschen, ganz lebendig zeigt, macht Michael einen Tauchkurs und findet Freunde im Leichtathletikteam seiner neuen Schule. Eines Nachts leihen sich die Jungen heimlich Tauchgeräte aus und unternehmen einen Tauchgang, der fast dramatisch endet, weil ihnen die Luft ausgeht. Die Jungen können sich retten, doch kurz darauf stirbt einer von ihnen an Atemschwäche. Offenbar sind alle Teilnehmer, unter ihnen auch Michael, von einer rätselhaften Krankheit befallen, an der bereits mehrere junge Sportler starben: sie können nur noch in einer Atmosphäre überleben, die für normale Menschen tödlich wäre. Ist die Ursache die geheimnisvolle Kristalldruse, die Taucher aus dem Lavaboden am Meeresgrund geborgen haben? Oder sind Yoshikawas Experimente mit den >Affenmenschen< tragisch fehlgeschlagen? Für alle meine Freunde auf Maui. Mein besonderer Dank gilt der Maui Writers Conference and School, die mein ganzes Leben - nicht nur das des Schriftstellers - bereichert hat. Wie wir alle wissen: Maui No Ka Oi - Maui ist wirklich die Schönste, ein Paradies auf Erden. DIE ENTDECKUNG Von oben sah der Tag vollkommen aus. Ein azurblauer Himmel, ein türkisglänzendes Meer. Vereinzelt trieben Wolken wie aus Zuckerwatte über den unendlichen blauen Hintergrund. Der Wind hatte sich gelegt, und die Ozeanwellen schlugen sanft gegen das zersplitterte Ende des Lavastroms, der sich von seinem Eruptionskanal an der Flanke des Kilauea auf der Insel Hawaii bis zum Meer erstreckte. Auf der Großen Insel, die bei weitem größer war als alle anderen hawaiianischen Inseln zusammen. Und sie wuchs mit jedem Tag. Heute jedoch schien sich die Erde der Ruhe des Wassers und des Windes anzupassen. Die Feuer im Kern der Insel brodelten offenbar nur leicht vor sich hin, als warteten sie auf eine günstigere Gelegenheit, sich durch die Felskruste einen Weg nach oben zu bahnen und Flüsse aus glühendem Magma auszusenden, damit diese sich die Bergflanken hinabwälzten und immer weiter ins Meer vordrangen. Auf einen Tag wie diesen hatte das Tauchteam gewartet. Eine Stunde nach Sonnenaufgang waren sie an Bord des Schleppdampfers gegangen, der sie aus der Hilo-Bucht herausbrachte. Jetzt lag das Schiff etwa zweihundert Meter hinter dem Ende des Lavastroms, befestigt durch drei Anker, die an schwere Trosse gekettet waren. Den Schleppkran hielt ein kleinerer Anker in Position. Die Schiffscrew hatte nicht viel zu tun, solange die Taucher keine Signale gaben. Die Männer vertrieben sich die Zeit auf Deck, spielten Karten und tranken Bier. Bei dem herrlichen Wetter dachte niemand an etwas Böses. Hätten sich nicht Wind und Meer gegen sie verschworen, so hätte vielleicht jemand den winzigen seismischen Ausschlag bemerkt und erkannt, dass die Idylle dieses ruhigen Tages bloße Illusion war. Unter der dicken Lavazunge, die von dem Vulkanschlot an der Bergflanke bis zum Meer führte, war der Druck im heißen Kern weit unter der Erdkruste ständig gestiegen und hatte einen riesigen Gesteinsbrocken aufgespalten. Es handelte sich nicht um eine explosive Spalte - nicht annähernd von der gewaltigen Kraft, die freigesetzt worden war, als die Kontinentalplatten zerbrachen und Hunderte von Kilometern scheinbar fester Erde jählings in entgegengesetzte Richtungen geschoben wurden. Auch handelte es sich nicht um eine Spalte jener Art, in der sich urplötzlich der Meeresboden hebt, woraufhin große Flutwellen Tausende von Kilometern in alle Richtungen jagen, sich über dem Land auftürmen und alles niederwalzen, was ihnen im Weg steht. Diese Spalte, die sich dicht unter der Oberfläche befand, erzeugte nur winzigste Ausschläge auf den Seismografen, welche die Bewegungen des Berges registrierten. Wenn es irgend jemand auf der Insel überhaupt bemerkt hatte, dann fragte er sich einen Augenblick später, ob er sich das Ganze nicht bloß eingebildet hatte. Unter der Lavazunge bot der Riß im Gestein gerade so viel Platz, dass sich eine glühende Säule geschmolzenen Felsens langsam ihren Weg nach oben bahnen konnte. Dabei verbreiterten Hitze und Druck den Kanal, bis schließlich weißglühendes Magma den leeren Tunnel unter der Lavazunge füllte, dort, wo vor Jahren der flüssige innere Kern des Lavastroms aus der Röhre abgeflossen war, welche die sich schnell abkühlende Oberfläche der Lavamasse geschaffen hatte. Und nun, da der Schlepper friedlich am Ende der Zunge im Wasser schaukelte und die Taucher nichtsahnend in der Tiefe arbeiteten, strömte das flüssige Feuer den Berg hinab, durch das schwarze Gestein darüber verborgen und isoliert. Schließlich erreichte es das Ende der Röhre, dort, wo der Fluss durch das Meer abgekühlt und zum Stillstand gebracht worden war. Dort häufte sich nun die neue Lava an, und mit jeder Minute strömte weitere Masse hinzu, deren Gewicht gegen die Innenwand des Kliffs drückte und deren Hitze unablässig gegen die Steinwände brannte, die das brodelnde Magma von der See trennten. Dreißig Meter unter der Oberfläche arbeiteten die beiden Taucher, ein Mann und eine Frau. Sie wollten das Objekt bergen, das sie vor einer Woche entdeckt hatten. Es lag eingebettet in die Lavaschicht auf dem Meeresboden und war von fast vollkommener Kugelform. Seine Farbe ähnelte der von Lava so sehr, dass die Taucher es fast übersehen hätten, als sie zum erstenmal daran vorbeikamen. Doch schließlich war der Frau die gerundete Form, die sie soeben aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, doch noch aufgefallen. Sie hatte das Ganze etwas näher angesehen, weil ihr eine solche Lavaformation noch nicht begegnet war. Kurz darauf merkte ihr Partner, dass sie sich nicht mehr in der üblichen Position rechts neben ihm befand, und machte kehrt, um sie zu suchen. Kaum hatte er die Kugel gesehen, zeigte er ein ebenso großes Interesse wie sie. Fast zehn Minuten lang untersuchten sie das Objekt. Obwohl es fest in der Lava steckte, konnten sie erkennen, dass es kein Bestandteil dieser Schicht, sondern eine Art Hohlraum war. Nachdem sie es fotografiert und seine genaue Position bestimmt hatten, beendeten sie ihren Tauchgang, um später an jenem Tag ihrem Arbeitgeber von ihrer Entdeckung zu berichten. Nun waren sie an ihren Fundort zurückgekehrt. Fast eine Stunde hatten sie sich unter Wasser aufgehalten und sorgsam ein speziell angefertigtes Netz um die Kugel plaziert. Dann hatten sie das Netz an einem Haken befestigt, der von einem Kran auf dem Deck der Barke herunterhing. Das Korbnetz, das nur für diese Aufgabe entworfen worden war, ähnelte den geknüpften Wadennetzen, die Generationen japanischer Fischer an Glasschwimmern befestigt hatten. Das Material war allerdings eine Kunststoffaser und stärker als Stahl. Nachdem sie das Netz angebracht und sich davon überzeugt hatten, dass das schwere Geflecht nicht abgleiten konnte, aktivierte die Frau einen Signalgeber, der an ihrem Bleigürtel hing. Die Crew auf dem Schlepper machte sich daran, die Kugel vom Boden des Ozeans nach oben zu ziehen. Einer der Männer glaubte, einen Hauch Schwefel in der Luft zu riechen. Er rümpfte die Nase. Wahrscheinlich wieder die Tankbatterien, die von Zeit zu Zeit unangenehme Dämpfe ausstießen. Da sie sich auf die Arbeit mit dem Kran konzentrierten, bemerkte keiner der Matrosen die Rauchfäden, die langsam durch die ersten winzigen Risse an der Oberseite des zweihundert Meter entfernten Kliffs drangen. Dreißig Meter tiefer hielten die Taucher nun einen Abstand von etwa zehn Metern zu der Kugel. Sie beobachteten, wie sich das Seil, an dem der Haken hing, straffte. Einen Augenblick lang geschah nichts, doch dann schoß die Kugel, die einen Durchmesser von etwa einem Meter hatte, förmlich aus ihrem Lavabett, um sofort wieder bis fast auf den Boden herabzusinken wie ein gigantisches Jo-Jo. Nach einer kurzen Ruhepause stieg die Kugel langsam an die Oberfläche, während die beiden Taucher dorthin schwammen, wo sie gelegen hatte. In dem Augenblick, als die Kugel über dem Deck des Schleppers baumelte und herabgelassen wurde, gab die Außenseite des Kliffs nach. Ein Strom glitzernder gelber Lava ergoß sich aus der Öffnung ins Meer, wo die heiße Masse in Millionen winziger Fragmente explodierte, als sie mit dem Wasser in Berührung kam. Der Kranführer stieß einen Warnschrei aus. Innerhalb von Sekunden hatte die Crew die Ankerkette gekappt, Anker und Ketten aufgegeben. Mit voller Kraft flüchtete der Schlepper aufs offene Meer. Das eben noch trügerisch ruhige Wasser schlug nun heftig gegen das Boot. Es reagierte auf die explosive Kraft des rasch anwachsenden Lavastroms, der aus der weiter nachgebenden Öffnung im Kliff schoß. »Was ist mit den Tauchern?« schrie ein entsetzter Matrose. Doch er kannte die Antwort selbst. Die Taucher spähten gerade in die Spalte, in der die Kugel geruht hatte, als sie die ersten Unterschallvibrationen spürten. Aus Überraschung wurde in Sekundenschnelle Panik, aber als sie nach ihren Gürteln griffen, um die Gewichte zu lösen und so schnell wie möglich nach oben zu schwimmen, war es bereits viel zu spät. Plötzlich zerbarst der Boden des Ozeans, und als das brodelnde Magma durch diesen Riß ins Meer brach, war es, als würde das Wasser selbst explodieren in einem Höllenfeuer aus Schwefelsäure, kochendem Wasser und Dampf. Vulkanisches Glas schoß wie Schrapnellfeuer in alle Richtungen. Eine Sekunde, nachdem Dampf, Säure und das kochende Wasser die Taucher getötet hatten, wurden ihre Leichen von den Silikatfragmenten zerfetzt, die wie Millionen heißer Skalpelle durch ihre Körper fuhren. Nach wenigen Sekunden war nichts mehr von ihnen übrig. Eine Meile weiter draußen auf dem Meer betrachtete die Crew des Schleppers fasziniert und entsetzt das Schauspiel, das sich ihnen bot. Die Küste war verschwunden, eingehüllt in einen dichten Nebel aus Dampf, giftigen Gasen und vulkanischer Asche, die wie ein Vorhang dort hing, wo noch vor wenigen Minuten das Kliff gewesen war. Eine aufkommende Brise ließ die Wellen rollen, und am Himmel zogen dunkle Wolken auf, als hätten die Kräfte, die den Zorn des Berges entfesselt hatten, auch einen Sturm entfacht. Mit Ferngläsern suchten die Matrosen das Wasser nach irgendeinem Lebenszeichen der beiden Taucher ab, auch wenn sie wussten, dass es sinnlos war. Sie selbst waren nur knapp mit dem Leben davongekommen. Als der Sturm stärker wurde und die Wellen immer heftiger gegen den Schlepper schlugen, wendete der Kapitän das Boot, und sie fuhren in den sicheren Hafen von Hilo zurück. An Deck machten drei Männer die Kugel fest. Während sie arbeiteten, fragten sie sich, ob dieses Ding die Leben wert war, die seine Bergung gekostet hatte. PROLOG Los Angeles Irgendwie hätte es anders sein sollen. Alles sollte doch besser werden, nicht schlechter. Das hatten sie ihm versprochen - alle hatten das getan. Zuerst der Arzt: »Wenn du die Tabletten nimmst, geht es dir besser.« Dann sein Trainer: »Du musst dich eben anstrengen. Ohne Fleiß kein Preis.« Sogar seine Mutter: »Versuch einfach, jeden Tag ein Stückchen weiterzukommen, mach nicht alles auf einmal.« Also hatte er die Tabletten geschluckt, und er hatte sich angestrengt und zugleich darauf geachtet, dass er sich nicht übernahm. Und es schien auch tatsächlich besser zu werden, letzte Woche. Obwohl der Smog so dicht über der Stadt hing, dass sich die meisten seiner Freunde früh aus der Schule verabschiedet hatten und an den Strand gegangen waren, wo der Küstenwind frische Luft vom Meer heranbrachte, hatte er alle seine Stunden absolviert. Nach dem letzten Läuten hatte er im Umkleideraum seine Laufshorts angezogen und sich auf der Laufstrecke an seine vier Aufwärmrunden gemacht, die der eigentlichen Arbeit an den Hürden stets vorangingen. Denn im Hürdenlauf wollte er an seinem achtzehnten Geburtstag Sieger der State Championships werden. Dafür trainierte er. Letzte Woche hatte es einen Tag gegeben, an dem die Tabletten endlich zu wirken schienen. Er war allein auf der Strecke gewesen. Eigentlich hatte er erwartet, dass ihm schon nach der Hälfte der ersten Runde die Luft ausgehen würde, aber noch als er durch die letzte Kurve lief, spürte er die Energie in seinem Körper, spürte, wie seine Lunge den Sauerstoff mühelos pumpte. Sein Herzschlag war kaum erhöht. In Runde zwei und drei lief er sogar noch etwas schneller, fühlte sich aber noch immer gut dabei - richtig gut. Deshalb hatte er in der vierten Runde noch einmal alles gegeben, und es war plötzlich wieder wie vor einigen Monaten gewesen, als er sich immer großartig gefühlt hatte. Aber an jenem Tag in der letzten Woche fühlte er sich besser als je zuvor. Seine Lunge hatte so viel Luft eingeatmet, und sein ganzer Körper hatte positiv darauf reagiert. Statt des schwachen brennenden Schmerzes, den er sonst nach der Aufwärmmeile spürte, fühlte er nur ein angenehmes Kitzeln in den Muskeln. Seine Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, der mit seinem regelmäßigen Herzschlag in Einklang war. Alle Teile seines Körpers schienen wieder zu harmonieren. Er war an diesem Tag sogar noch ein paar Extrarunden gelaufen, so sehr hatte er die neue Kraft genossen. Endlich zeigten die Tabletten Wirkung. Später, als er die Hürden aufbaute, setzte er sie im gleichen Abstand wie sonst, aber etwas höher. Er flog förmlich über sie hinweg, ohne auch nur eine einzige zu streifen. Er fühlte sich nahezu schwerelos, während er mühelos die Hindernisse überwand. Als er sich zwei Stunden später wieder auf den Weg zu den Umkleideräumen machte, war er nicht einmal außer Atem. Sein Herz schlug leicht, und seine Beine fühlten sich an, als wäre er vielleicht eine halbe Stunde leicht getrabt und hätte nicht zweieinhalb Stunden Spurten und Springen hinter sich. Doch am nächsten Tag brach all das über ihm zusammen. Kaum hatte er das erste Viertel einer Runde zurückgelegt, als er wieder dieses bekannte, beklemmende Gefühl in der Lunge spürte, und sein Herz schlug so heftig wie auf der Zielgerade eines Zehn-Kilometer-Laufs. Er machte weiter und versuchte sich einzureden, dass dies nur eine ganz natürliche Reaktion auf den gestrigen Tag sei, an dem er seinen Körper überanstrengt hatte. Aber als er die erste Runde beendete, wusste er, dass es keinen Sinn hatte. Er bog von der harten Erde der Bahn ab und ließ sich auf den Rasen fallen. Auf dem Rücken liegend, starrte er in den blauen Himmel und kniff die Augen zum Schutz gegen die grelle Nachmittagssonne zu. Was, zum Teufel, war nur los? Gestern hatte er sich großartig gefühlt. Heute fühlte er sich wie ein alter Mann. Er weigerte sich, dem Schmerz in seiner Lunge nachzugeben, ignorierte sein heftig pochendes Herz und das Ziehen in seinen Beinen. Als sein Trainer zu ihm kam und fragte, ob alles in Ordnung sei, wehrte er ab. Es sei nur ein Krampf, sagte er und rieb sich den rechten Wadenmuskel, um seine Lüge glaubhafter zu machen. Der Trainer hatte ihm geglaubt - oder zumindest so getan, was ihm ebenso recht war -, und er war aufgestanden und wieder auf die Bahn gegangen. Er schaffte vier Runden, die letzte jedoch nur in einem Tempo, das eher einem zügigen Gehen glich. Der Trainer hatte ihn angeschnauzt: Er solle sich mehr anstrengen oder nach Hause gehen. Er hatte sich angestrengt, aber schließlich gab er doch auf und ging nach Hause. Und seitdem war es mit jedem Tag schlimmer geworden. Und mit jedem Tag musste er stärker gegen den Schmerz ankämpfen. Vorgestern war er beim Arzt gewesen, das viertemal seit Silvester, und auch diesmal hatte der Arzt nichts finden können. Wieder einmal hatte er die gleichen Fragen beantwortet. Ja, es sei ihm gut gegangen, als er nach Silvester mit seiner Mutter von Maui zurückgekehrt sei. Nein, sein Vater sei nicht dabeigewesen. Er war mit seiner neuen Frau und ihrem Baby zum Grand Canyon gefahren. Nein, es mache ihm nichts aus, dass sein Vater nicht mit nach Maui gekommen sei - im Gegenteil, er war heilfroh, dass seine Mutter seinen Dad endlich in die Wüste geschickt hatte, weil es seinem Dad offenbar Spaß gemacht hatte, sie beide zu verprügeln, wenn er besoffen war, was in den letzten beiden Jahren praktisch jeden Tag passierte, bevor er endlich abhaute. Nein, er hasse seinen Vater nicht. Er möge ihn nicht besonders und sei froh, dass er fort sei, aber er hasse ihn nicht. Er hasste nur die Schmerzen in seinem Körper. Der Doktor hatte vorgeschlagen, dass er vielleicht einen Psychiater aufsuchen solle, aber das würde er bestimmt nicht tun. Nur Spinner und Verlierer gingen zum Psychiater. Was immer mit ihm nicht stimmte, er würde es allein überwinden. Doch in den vergangenen beiden Tagen war der Schmerz fast unerträglich geworden. Er hatte Alpträume und wachte nach Luft schnappend auf. Schließlich hatte er unablässig Schmerzen, überall in seinem Körper. Irgendwann kam ihm der Gedanke, dass es besser sei, zu sterben als mit diesen Schmerzen leben zu müssen. An diesem Tag hatte er sich vorzeitig aus der Schule verabschiedet und war mit dem Wagen durch die Gegend gefahren, bis ihn ein Polizist anhielt und ihm wegen seines defekten Auspufftopfs einen Strafzettel verpaßte. Was, zum Teufel, sollte er jetzt tun? Er hatte nicht genug Geld, um den Strafzettel zu bezahlen, geschweige denn, den Auspuff reparieren zu lassen. Wozu eigentlich der ganze Aufstand? Der Auspuff machte doch kaum Krach, und im Wagen roch es auch nicht besonders stark. Aber seine Mutter würde ihm trotzdem die Hölle heiß machen, und sein Vater würde ihm einen endlosen Vortrag darüber halten, wieviel Geld es ihn kostete, zwei Familien zu unterhalten, wenn er ihn bat, ihm für die Reparatur etwas zu leihen. Was für ein Mist! Er bog in die von Bäumen gesäumte Straße ein, in der er sein Leben lang gewohnt hatte, und drückte auf den Knopf der Fernbedienung, die das Garagentor öffnete, als er noch zwei Häuser entfernt war. Er bog in dem Augenblick in die Auffahrt ein, als sich das Tor gerade ganz geöffnet hatte. Wie von selbst begann er das Spiel, das er jeden Nachmittag gegen sich selbst spielte. Er drückte erneut auf die Fernbedienung und versuchte so in die Garage zu fahren, dass sich das Tor gerade hinter dem Heck des Wagens herabsenkte. Heute schätzte er die Geschwindigkeit falsch ein. Mit einem lauten Knall schlug das Garagentor gegen die hintere Stoßstange. Jetzt hatte er nicht nur für einen Strafzettel und einen kaputten Auspuff geradezustehen, sondern auch noch für die Kratzer am Wagen und an der Garagentür. Und ihm tat alles weh. Vielleicht sollte er nicht gleich ins Haus gehen, sondern erst mal ein Weilchen sitzen bleiben. Einfach dasitzen und abwarten. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihm aus und vertrieb die Schmerzen, die er so lange ertragen hatte. Plötzlich sah alles rosiger aus. Vielleicht hatte er die Lösung all seiner Probleme gefunden. Ohne seine Mutter. Ohne seinen Trainer. Selbst ohne seinen Arzt. Der Junge schloß die Augen und atmete tief ein. Zum erstenmal seit Wochen spürte er keine Schmerzen mehr. Für seine Mutter war der Tag nicht viel besser gelaufen als für ihn. Angefangen hatte es mit einem morgendlichen Anruf ihres Exmannes, der sie bedrängte, die Höhe der Unterhaltszahlungen neu auszuhandeln. Mit anderen Worten: Die Blondine, mit der er sich aus dem Staub gemacht hatte, brauchte mehr Geld. Nun, diese Idee hatte sie ihm schnellstens ausgeredet. Gegen Mittag fand sie dann heraus, dass eine Kollegin, die ein Jahr weniger Berufserfahrung hatte, den Platz im Vorstand bekommen sollte, der eigentlich ihr zugestanden hätte. Jetzt hatte sie zwei Möglichkeiten: ein weiteres Jahr zu warten oder sich auf Jobsuche zu machen. Die Antwort kannte sie allerdings bereits: Sie würden sie auch in einem Jahr nicht zum Partner machen, und deshalb konnte sie sich auch gleich mit den Headhunters in Verbindung setzen. Als sie gerade zu der Überzeugung gekommen war, dass jetzt das Schlimmste überstanden sei, rief der Arzt an, um ihr einen guten Psychiater für ihren Sohn zu empfehlen. Aber bevor sie ihn zu einem Seelenklempner schickte, würde sie ihn auf alle Fälle noch von jemand anderem untersuchen lassen. Doch wahrscheinlich würde die Krankenversicherung dafür nicht aufkommen, und die Reise nach Maui hatte ihre Kasse schon bis zum Limit strapaziert. Aber ihr würde schon noch etwas einfallen. Als sie in die Auffahrt bog, drückte sie auf die Fernbedienung, bremste den Wagen ab und wartete darauf, dass sich das Garagentor hob. Mehr noch als die Gase, die aus der Garage drangen, sagte ihr das Geräusch des laufenden Motors, dass etwas nicht stimmte. Sie rammte den Automatikhebel in Parkstellung, riß die Tür auf und stürzte aus dem Wagen in die Garage. Ihr Sohn saß in seinem Auto. Seine Beine ruhten auf dem Beifahrersitz, und er lehnte mit dem Rücken an der Fahrertür. Sein Kopf hing auf der Brust. Sie unterdrückte einen Schrei und zerrte am Türgriff. Verschlossen! Sie lief um den Wagen herum und versuchte es an der Beifahrertür, während sie den Namen ihres Sohnes rief. Nichts! Halt! Hatte er sich nicht bewegt? Sie hielt die Hand über die Augen und starrte in den Wagen. Seine Brust bewegte sich. Er atmete noch. Die Gase in der Garage drangen in ihre Lunge, und sie musste husten. Nervös angelte sie nach dem Schlüssel, der an einem Nagel unter der Werkbank hing, schloß die Tür zur Küche auf und griff nach dem Telefon. »Mein Sohn!« schrie sie, als sich eine Stimme der Notrufzentrale meldete. »O mein Gott, ich brauche einen Krankenwagen!« Eine bedächtige Stimme fragte sie ruhig nach ihrer Adresse. Ihr Kopf war plötzlich vollkommen leer. »Ich ... ich kann nicht...« Schließlich fiel es ihr wieder ein, und sie platzte mit der Hausnummer heraus. »North Maple, zwischen Dayton und Clifton. Machen sie schnell! Er hat sich in seinem Wagen in der Garage eingeschlossen, und ...« Die gelassene Stimme unterbrach sie. »Bleiben Sie ganz ruhig, Ma'am. Ein Wagen ist bereits unterwegs.« Sie ließ den Hörer auf die Arbeitsfläche fallen und rannte in die Garage zurück. Sie musste den Wagen aufkriegen - irgendwie. Ein Hammer. Am anderen Ende der Werkbank hatte doch immer ein Vorschlaghammer gestanden. Sie zwängte sich zwischen Motorhaube und Bank hindurch und betete im stillen, dass ihr Exmann den großen Hammer nicht einfach mitgenommen hatte. Er hatte nicht - der Hammer stand genau da, wo er immer gestanden hatte. Sie packte den Griff mit beiden Händen, schwang den Hammer und ließ den breiten Metallkopf mit aller Kraft in das Beifahrerfenster des Wagens krachen. Das Sicherheitsglas zersprang in Tausende kleiner Splitter. Die Frau ließ den Hammer fallen, griff durch das zerbrochene Fenster und öffnete von innen die Tür. Sie riß sie auf, beugte sich über ihren Sohn und zog den Zündschlüssel ab. Das donnernde Motorengeräusch erstarb und wurde in der nächsten Sekunde vom durchdringenden Geheul einer sich nähernden Sirene abgelöst. Sie packte die Fußgelenke ihres Sohnes und versuchte ihn aus dem Wagen zu ziehen, aber noch bevor ihr das gelang, schoben sie zwei weißgekleidete Sanitäter sanft beiseite, schafften den Jungen heraus und preßten ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Als sie sah, dass er sich bewegte, befreite sie sich langsam aus der Umklammerung der Panik. »Er kommt zu sich«, versicherte ihr einer der Nothelfer, als sie den Jungen aus der Garage trugen und auf eine Bahre legten. »Sieht aus, als würde er es schaffen.« Als die Sanitäter ihren Sohn in den Krankenwagen schoben und die Tür schlossen, wand sich der Junge hin und her. »Ich will mitkommen!« bat die Frau. »Bitte! Es ist doch mein Sohn.« Die Türen des Krankenwagens öffneten sich noch einmal, und die Frau stieg ein. Mit heulender Sirene raste der Wagen zum Cedars-Sinai Hospital, das fast zwanzig Blocks entfernt war. Die Fahrt schien ewig zu dauern, und die Frau musste hilflos zusehen, wie ihr Junge sich gegen die beiden Sanitäter zu wehren schien, von denen der eine ihn festhielt, während der andere ihm die Sauerstoffmaske aufs Gesicht drückte. Sie ergriff die Hand ihres Sohnes und versuchte ihn zu beruhigen, und schließlich gab er seinen Kampf auf und lag ganz ruhig da. Gerade als der Krankenwagen in die Einfahrt zur Notaufnahme einbog, spürte die Frau plötzlich, wie die Hand ihres Sohnes erschlaffte. Er lag völlig regungslos auf der Bahre. Einer der Sanitäter fluchte leise. Alles in ihr spannte sich an, und als die Türen von außen aufgerissen wurden, stieg sie ganz langsam wie in Trance aus dem Krankenwagen. Die Sanitäter eilten mit ihrem Sohn in die Notaufnahme, wo ein Ärzteteam darauf wartete, ihn zu übernehmen. Hinter der Bahre ging sie ins Krankenhaus. Schweigend sah sie zu, wie die Ärzte sich abmühten, aber sie ahnte bereits, was kommen würde. Und schließlich hörte sie die gleichen Worte, die sie zum erstenmal vom Arzt ihres Sohnes und dann von den Sanitätern gehört hatte: »Ich verstehe das nicht - er müsste okay sein.« Aber ihr Sohn - ihr geliebter, wunderbarer Sohn - war nicht okay. Ihr Sohn war tot. KAPITEL 1 New York City »Was hast du vor, Sundquist? Willst du dich umbringen?« Den spöttischen Worten folgte ein harsches Lachen, das von den nackten Betonwänden der Schulsporthalle widerhallte und sich in Michael Sundquists Ohren zu verstärken schien. Was sollte er tun? Mit den Liegestützen aufhören und sich dem Idioten stellen? Keine gute Idee. Der Idiot hieß Slotzky - Vorname unbekannt, zumindest kannte Michael ihn nicht - und war ungefähr einen Kopf größer als er. Darüber hinaus wog er bestimmt zwanzig Kilo mehr, ohne fett zu sein. Mit Slotzky Streit anzufangen bedeutete unweigerlich, den Hintern versohlt zu kriegen, und das war das letzte, was sich Michael an diesem Morgen wünschte. Er wünschte sich allerdings sehr, seine Übungen zu Ende bringen zu können: fünfzig Liegestützen, fünfzig Rumpfbeugen und in der restlichen Zeit so viele Runden, wie er auf der Laufbahn der Sporthalle schaffte, bis die Pausenglocke läutete und er unter die Dusche musste. Wenn er Slotzky ignorierte und sich nicht auf eine Schlägerei einließ, musste das leicht zu schaffen sein. Er hatte ein großes Ziel. Er wollte unbedingt in die Schulauswahl. Für Basketball war er nicht groß genug und würde es auch nicht mehr werden, und für Football mangelte es ihm an Gewicht. Also blieb Leichtathletik. Und ein guter Läufer war er schon immer gewesen. Selbst als sein Asthma so schlimm geworden war, dass er kaum atmen konnte, hatte er seine Klassenkameraden auf den Sprintstrecken geschlagen. Sie hatten ihre Witze gemacht: Versuch erst gar nicht, Sundquist beim Start zu überholen. Du musst nur so lange hinter ihm hertrotten, bis er zusammenklappt. An dem Scherz war einiges dran. Noch vor einem Jahr war er nicht in der Lage gewesen, mehr als eine Viertelmeile zu laufen. Auch wenn er zu Beginn eines Laufs stets vorne lag, hatte er schon bei fünfzig Yards seine Schwierigkeiten, und auf hundert kam er stets als letzter an. Aber auch als sein Asthma immer schlimmer wurde, hatte er nie aufgegeben. Als seine Mutter ihn damit zu trösten versuchte, dass es in seiner Familie niemals Sportler gegeben habe, stachelte ihn das nur noch mehr an. Was wusste sie schon? Das war Männersache. Sein Vater hätte es verstanden; aber sein Vater lebte nicht mehr. Jedesmal, wenn Michael um Atem ringend lief und seinen Körper zwang, bis an die äußersten Grenzen zu gehen, um die beängstigende Krankheit zu besiegen, an der er schon als kleiner Junge gelitten hatte, stellte er sich vor, wie sein Vater an der Laufbahn stand und ihm zujubelte. Auch wenn das Gesicht seines Vaters im Lauf der Zeit immer verschwommener wurde und er sich manchmal gar nicht mehr an die volle, tiefe Stimme erinnern konnte, hielt Michael am Bild seines Vaters fest. Er zog seine Kraft aus diesem Bild, und schließlich, vor einem Jahr, begann er aus seinem Asthma herauszuwachsen. Er beendete die Liegestützen und machte fünfzig schnelle Rumpfbeugen, bevor er - kaum außer Atem - zum Reck lief, um fünfzig Klimmzüge folgen zu lassen. Als er an dem Fenster vorbeiging, das die Sporthalle vom Trainingsraum trennte, warf er einen raschen Blick auf sein Spiegelbild. Ja, seine Brust war tatsächlich breiter geworden - man konnte es deutlich sehen. Und mit jeder Rumpfbeuge, jeder Liegestütze, jeder Runde zahlte sich seine Besessenheit aus. Die anderen Jungs lachten ihn schon lange nicht mehr aus. Nur noch Slotzky. Und auch der würde ihn in Ruhe lassen, wenn er in das Leichtathletikteam der Schule kam. Und zwar nicht als Kurzstreckenläufer. Nein, Michael hatte sich höhere Ziele gesetzt - den Langstreckenlauf, wo Ausdauer mindestens soviel zählte wie Schnelligkeit, wenn nicht mehr. Nach dem letzten Klimmzug überprüfte er erneut seine Atmung. Er atmete etwas schwerer als zu Beginn seiner Übungen, war aber noch längst nicht aus der Puste. Kein Anzeichen, dass diese schrecklichen Asthmaattacken wiederkamen, die ihn umklammert hatten, bis er schweißnaß nach Luft schnappte. Er ging zu den Metallstufen, die zur Laufbahn hinaufführten, die in drei Meter Höhe längs der Wände verlief, über den Basketballkörben dicht unter der Decke. Zwei Schritte auf einmal nehmend, warf er einen Blick auf die Uhr am anderen Ende der Halle. Noch zwanzig Minuten. Er konnte noch ein paar Meilen laufen, bevor er zum Duschen musste. Er begann mit einem leichten Trab und achtete darauf, nicht zu schnell zu werden, damit er in den engen Kurven an den vier Ecken der Sporthalle nicht zu stark abbremsen musste. Außer ihm lief niemand. Seine Klassenkameraden hielten sich ein Stockwerk tiefer auf. Einige spielten Basketball, andere stemmten Gewichte, aber die meisten lümmelten einfach auf dem Boden herum und warteten darauf, dass die Stunde zu Ende ging. »He, Sundquist!« rief Slotzky mit hässlichem Grinsen. »Hast du keine Angst, dass du da oben zusammenklappst?« Slotzkys Freunde lachten gehorsam. Bei Slotzkys Ruf war Michael zusammengefahren, und ehe er auch nur darüber nachdenken konnte, hatte er Slotzky bereits den Finger gezeigt. Keine gute Idee. Slotzkys Grinsen erlosch. Er stand auf und rannte auf die Treppe zu, drei seiner Freunde folgten ihm. Während er nach einem Fluchtweg suchte, fragte sich Michael, welcher Teufel ihn geritten hatte, so etwas Dummes zu tun. Er fragte sich auch, ob wirklich etwas Wahres an dem Gerücht war, dass Slotzky jemanden von einem Hausdach gestoßen hatte. Während sich Slotzky und einer seiner Freunde von der einen Seite näherten, versperrten die beiden anderen Michael den Weg, so dass er sich in einer besonders unangenehmen Zwickmühle befand. »Und was jetzt, Angsthase?« fragte Slotzky, der langsam näherkam. Michael beobachtete den Schläger und seine Freunde. Es gab nur einen Ausweg. Er schwang sich über das Geländer und ließ sich herab, bis er sich nur noch mit den Fingern am Rand der Laufbahn festklammerte. Slotzky lief auf ihn zu, und obwohl er noch etwa zehn Meter entfernt war, spürte Michael bereits, wie ihm der größere Junge mit seinen Turnschuhen auf die Fingerspitzen trat. Ohne nach unten zu sehen, ließ er sich auf den Parkettboden fallen, wo er sich geschickt abrollte. Ein Schmerz zuckte durch seine Schulter, aber er ignorierte ihn, rappelte sich auf und schaute nach oben, um zu sehen, was seine Verfolger nun vorhatten. Slotzky lehnte sich über das Geländer und starrte düster auf ihn hinab. Dann spuckte er Michael ins Gesicht, mit einer Geschicklichkeit, die auf jahrelange Übung schließen ließ. »Wir sehen uns nach der Schule«, sagte er. Michael wischte sich den schleimigen Klumpen von der Wange. Dann drehte er sich um und ging langsam zu den Umkleideräumen zurück. Er fragte sich, ob Slotzky nach der Schule wohl mit einem Messer oder einer Schußwaffe aufkreuzen würde. Wahrscheinlich mit beidem. Katharine Sundquist war sich bewusst, dass sie sich eigentlich auf ihre Arbeit konzentrieren sollte. Auf dem Schreibtisch ihres Büros im Natural History Museum lag das Fragment eines hominiden Kiefers, das bei einer Ausgrabung in Afrika gefunden und vor einer Woche zu ihnen geschickt worden war. Nicht, dass es noch allzu viel zu tun gegeben hätte. Sie hatte die Spezies sofort als Australopithecus afarensis identifiziert, und auch ihre späteren Untersuchungen hatten keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, dass es sich um etwas anderes handeln könnte. Der Kiefer war in einem Gebiet entdeckt worden war, in dem der Fund eines Australopithecus afarensis vielleicht nicht alltäglich, aber keineswegs spektakulär war. Außerdem war der Knochen in einer Tiefe ausgegraben worden, die der Ebene entsprach, in dem dieser spezielle Vorfahr des Homo sapiens meistens entdeckt wurde. Falls die Karbontests nichts Außergewöhnliches ergaben, schien der Fall klar. Aber ihr Interesse wurde durch eine Reihe von Fotos in Anspruch genommen, die einen Tag nach dem Kiefer des Australopithecus eingetroffen waren. Es handelte sich um ein halbes Dutzend Aufnahmen, begleitet von einem Brief mit näheren Angaben zur Fundstelle. Der Name auf dem Briefkopf - Rob Silver - hatte sofort Katharines Aufmerksamkeit erregt. Obwohl sie in den etwas über zwanzig Jahren, die seit ihrem gemeinsamen Universitätsabschluß vergangen waren, kaum noch Kontakt mit Silver gehabt hatte, wusste sie doch noch genau, wie er aussah: groß, kräftig, mit dichtem hellbraunem Haarschopf und blauen Augen, die ihr Herz - zumindest eine Zeitlang - hatten höher schlagen lassen. Aber als sein Interesse für polynesische Kultur ihn in die eine und ihr Interesse für Frühgeschichte sie in die andere Richtung führte, war ihre Romanze rasch erkaltet. Sie waren nicht nur durch verschiedene wissenschaftliche Interessen, sondern durch ganze Kontinente voneinander getrennt. Vier Jahre später hatte sie Tom Sundquist kennengelernt, ihn geheiratet und Michael zur Welt gebracht. In Michaels sechstem Lebensjahr war Tom Sundquist tödlich verunglückt. Er war in Afrika gestorben, an einem herrlichen Sommermorgen. Zehn Jahre war das jetzt her. Dennoch erinnerte sie sich daran, als ob es gestern geschehen wäre. Tom wollte nach Nairobi, um dort einen Flug nach Amsterdam zu erwischen, wo er einen Vortrag über die Ausgrabungsstätte halten sollte, an der sie seit fünf Jahren gemeinsam arbeiteten. Sie und Michael flogen nicht mit. Katharine leitete die Arbeiten während Toms Abwesenheit, und Michael war froh, weiter mit den afrikanischen Kindern spielen zu können, mit denen er sich angefreundet hatte. Sie hielt Michael an der Hand und sah zu, wie die einmotorige Cessna über die staubige Startbahn rollte und sich schließlich in den Morgenhimmel erhob. Wie immer zog der Pilot die Maschine herum, um noch einmal über sie hinwegzufliegen, aber diesmal wollte er noch ein bißchen angeben. Katharine und Michael sahen zu - sie mit wachsender Besorgnis, er mit wachsender Begeisterung -, wie der Pilot mit dem kleinen Flugzeug eine Reihe von Loopings und Wendungen vollführte. Dann schwebte er eine Weile in der Luft, bevor er die Cessna plötzlich umdrehte, so dass sie mit der Nase voran immer schneller der Erde entgegen raste. Katharine kannte das Manöver - es war eine der Spezialitäten des Piloten -, und es hatte sie immer schon geängstigt. In letzter Sekunde pflegte er die Maschine hochzureißen, mit den Flügeln zu wackeln und sich auf den Weg nach Nairobi zu machen, noch immer so niedrig, dass die Tierherden unter ihm in Panik davonstoben. Doch an jenem Morgen mussten Katharine und Michael mitansehen, wie das Flugzeug mit der Nase auf die Erde krachte und sofort in einem riesigen Feuerball explodierte. An jenem Tag hatte sie mit Michael die Ausgrabungsstätte verlassen und war nie mehr zurückgekehrt. Ein Jahr später hatten Michaels Asthmaanfälle begonnen. Nach Katharines Überzeugung waren sie dadurch ausgelöst worden, dass Michael mitangesehen hatte, wie sein Vater gestorben war. In den zehn Jahren nach Toms Tod hatte sich Katharine vor allem auf zwei Dinge konzentriert: auf die Gesundheit ihres Sohnes und auf ihre Arbeit. Meistens hatte ihr das auch gereicht. Aber seit sich ihr Sohn von den lähmenden Asthmaanfällen befreit zu haben schien, fragte sie sich manchmal, ob sie nicht selbst zu einem der Fossilien wurde, die sie ständig untersuchte. Und dann war letzte Woche der Brief von Rob Silver eingetroffen, zusammen mit den Fotos. Die Fundstelle, schrieb er, lag an der Flanke des Haleakala auf Maui. Er arbeite seit fünf Jahren auf Hawaii, wo er die Entwicklung der polynesischen Architektur untersuchte, ihre Ausbreitung vom Südpazifik zu den hawaiianischen Inseln. Aber der Fundort auf den Fotos, schrieb er, unterscheide sich vollkommen von allem, was er bislang auf Hawaii ausgegraben habe. Seine Mittel reichten aus, um einen wissenschaftlichen Berater zu bezahlen, und er fragte, ob Katharine vielleicht Interesse habe. Immer wieder betrachtete sie die Bilder und studierte den Fundort, der unter einer dichten Vegetationsschicht entdeckt worden war. Sie war bereits in die Museumsbibliothek gegangen und hatte die Fotos mit allen anderen Bildern von hawaiianischen Fundstellen verglichen. Es gab nichts Vergleichbares. Sie konnte den Fundort nur dann richtig analysieren, wenn sie ihn sah. Wieder einmal schob sie das langweilige graue Fossil beiseite, zusammen mit den ebenso langweiligen Fotos der Ausgrabungsstelle, und betrachtete die Bilder von der Stelle auf Maui. Der Fundort selbst schien nichts weiter als eine Ansammlung von großen Steinen zu sein. Er war von einem üppigen Wald mit riesigen Bäumen und blühenden Büschen und Ranken umgeben. Auf einigen Bildern sah man in der Ferne das schimmernde Türkis des Pazifischen Ozeans, auf anderen erkannte man, wie sich ein Wasserfall in einen kristallklaren Teich ergoß. All das wirkte in seiner Schönheit so unirdisch, als hätte ein Filmarchitekt aus Hollywood seine Vorstellungen vom Paradies verwirklicht. Hatte Rob ihr vielleicht mit voller Absicht diese verführerischen Einblicke in den Garten Eden gewährt, in dem der Fundort lag? Und warum verlor sie sich überhaupt in Tagträumen von tropischen Blumen und Passatwinden? Schließlich ging es um die Ausgrabungsstelle. Doch während ihr Blick durch den fensterlosen Würfel in der düsteren Höhle wanderte, die sie ihr Büro nannte, und sie daran dachte, wie trübe das Wetter war, wusste sie genau, warum die üppige Natur, die Rob Silvers Fund umgab, sie genauso anzog wie seine Entdeckung selbst. Noch einmal nahm sie den Brief in die Hand. Dreißigtausend Dollar. Rob Silver bot ihr dreißigtausend Dollar, wenn sie drei Monate mit ihm auf Maui arbeitete. Plus Spesen. Sie erinnerte sich an das frustrierende Gespräch, das sie letzte Woche mit dem Museumsdirektor geführt hatte. Ihre Mittel sollten um dreißig Prozent gekürzt werden. Die Beihilfe der National Science Foundation, mit der sie gehofft hatte, im Sommer wichtige Feldarbeit durchführen zu können, war »bewilligt, aber noch nicht finanziert«. Also bestand ihre Zukunft, abgesehen von dem Angebot auf ihrem Schreibtisch, aus dem folgenden: keiner Feldarbeit und einem praktisch nicht mehr existenten Budget. Das Problem war allerdings, dass Rob Silver sie bereits zum Ersten des kommenden Monats brauchte. Länger konnte er den Posten nicht unbesetzt lassen. Sie würde Michael von der Schule nehmen müssen - und damit aus dem Leichtathletikteam, für das er in letzter Zeit eine solche Begeisterung entwickelt hatte -, und das würde ihm wahrscheinlich gar nicht gefallen. Nun, vielleicht würden sich seine Einwände in Luft auflösen, wenn sie ihm erzählte, wohin sie gehen sollten. Sie griff zum Hörer und rief den Direktor an. »Ich möchte Urlaub nehmen«, sagte sie. »Für drei Monate.« Sie zögerte kurz. »Unbezahlten, natürlich.« Als sie fünf Minuten später wieder auflegte, fragte sie sich, ob Michael genauso leicht wie der Direktor zu überreden war. Aber als sie am Nachmittag nach Hause kam und die Wunde am Arm ihres Sohnes sah sowie den hässlichen gelb-blauen Fleck, der sein schmerzhaft geschwollenes linkes Auge umgab, wusste Katharine, dass die Entscheidung gefallen war. New York für drei Monate hinter sich zu lassen war genau das, was sie beide brauchten. KAPITEL 2 Als die 747 bei ihrem Anflug auf Honolulu langsam tiefer ging, schreckte Pedro Santiago hoch. Er hatte nicht vorgehabt, während des Fluges zu schlafen. Seit ihm der verschlossene Louis-Vitton-Kosmetikkoffer von dem Mann in Manila übergeben worden war, hatte er fest vorgehabt, während der Reise nach Hawaii äußerst wachsam zu bleiben. Eigentlich hatte er ja auch nicht richtig geschlafen, sagte er sich. Vielleicht hatte er die Augen geschlossen, und vielleicht hatte er sich in dem Zustand äußerster Entspannung befunden, der fast noch erfrischender als Schlaf ist, aber er hatte die ganze Zeit mitbekommen, was um ihn herum geschah. Er hatte gehört, wie die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs einen dritten Mai-Tai bestellt hatte, dann einen vierten und vor ein paar Minuten einen fünften. Er hatte den Mann in der Reihe vor sich schnarchen hören. Er hatte seine Füße auf den Kosmetikkoffer gestellt, den er unter den Sitz vor ihm geschoben hatte, so dass der schnarchende Mann ihn von vorn ebenso gut bewachte wie er selbst von seiner Seite. Für die Reise hatte er zwei Tickets erster Klasse gekauft, weil er keine Lust hatte, sich während des Fluges mit fremden Leuten zu unterhalten, vor allem aber, weil ein leerer Sitz neben ihm eine weitere Pufferzone in seinem ausgeklügelt diskreten Sicherheitssystem darstellte. Wenn jemand neben ihm saß - ein Mann oder sicherlich auch eine Frau -, der oder die besonders clever war, dann mochte es der betreffenden Person vielleicht gelingen, ihn in falsche Sicherheit zu wiegen, um ihn dann ... Ja, was eigentlich? Zu töten? Vielleicht. Solche Dinge waren schon passiert. In den letzten beiden Jahren waren zwei Mitglieder seiner Bruderschaft gestorben, angeblich an Herzattacken, die sie während eines Fluges erlitten hatten. Niemand außer ihren Mördern hatte etwas bemerkt, bis das Flugzeug zur Landung ansetzte. Gift konnte man auf viele verschiedene Arten verabreichen. Ein Drink, den die Stewardeß im Gang zubereitet und der für kurze Zeit unbeobachtet bleibt, als ein überfreundlicher Fluggast sie anspricht. Eine winzige Nadel, geschickt in den Nacken gestoßen von einem Passagier, der auf dem Weg zur Toilette ins Straucheln gerät. Pedro Santiago buchte nur Fensterplätze und trank nur aus Behältern, die er selbst mit an Bord gebracht hatte. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Teil der Reise sowieso keine Probleme verursachen würde. Wenn überhaupt Gefahr lauerte, dann auf der Rückfahrt, nachdem er seine Ware abgeliefert und seinen Lohn kassiert hatte. Er hob die Jalousie an und sah in den hellen Morgen hinaus. Weit unter ihm, durchbrochen nur von den Gipfeln der drei großen Vulkane, verbarg eine dichte Wolkendecke das Meer. Pedro blieb unbeeindruckt. Die Schönheit Hawaiis interessierte ihn nicht. Als die kurz bevorstehende Landung über die Sprechanlage angekündigt wurde, hob Santiago den Kosmetikkoffer auf und nahm ihn auf den Schoß. »Handgepäck muss unter dem Sitz vor Ihnen oder in der Gepäckablage verstaut werden, Mr. Santiago«, ermahnte ihn die Stewardeß, als sie mit dem letzten Tablett voll leerer Gläser an ihm vorbeikam. Er lächelte, nickte und stellte den Koffer wieder unter den Sitz. Das Flugzeug landete, wurde langsamer und steuerte auf das Gate zu. Pedro Santiago verließ das Flugzeug über die Gangway und betrat den Zollbereich. Er ignorierte das Schild, das ihn zur Kontrolle wies. Eines hatte er in seiner ganzen Profikarriere nie getan: Er hatte nie versucht, eine Lieferung an einem Zollbeamten vorbei ins Land zu bringen. So etwas war den Packeseln vorbehalten - den dummen Collegestudenten, die viele Jahre Gefängnis riskierten, und zwar für weniger Geld, als er an einem Abend mit einer Amsterdamer Hure ausgab. Während die anderen Fluggäste zur Zollkontrolle strömten, ging Santiago auf einen Mann in blauer Uniform zu, der ein paar Meter neben dem Arrival-Gate stand. »Könnte es sein, dass Sie auf mich warten?« fragte er in einem Englisch, das ebenso akzentfrei wie sein Spanisch, Portugiesisch und Türkisch war. »Möglicherweise, Mr. ...« Der Mann beendete den Satz nicht. »Jennings«, ergänzte Santiago. Es handelt sich um den unschuldig klingenden Code, den er bei den Verhandlungen um die Übergabe des Koffers vereinbart hatte. »Wenn Sie mir folgen wollen.« Der Mann in Uniform führte Santiago zu einer verschlossenen Tür, tippte eine Reihe von Zahlen in einem Nummernfeld ein und hielt dem Kurier schließlich die Tür auf, damit dieser vor ihm hindurchgehen konnte. Am Ende einer kurzen Treppe wartete ein elektrischer Golfkarren auf sie. Der Mann in der blauen Uniform fuhr sie zu einem Hubschrauber, der vierhundert Meter entfernt auf seinem Landeplatz stand. Der Mann stieg aus, und Santiago folgte ihm in den Helikopter, schloß die Tür und schnallte sich auf einem Sitz an. Ein oder zwei Sekunden lang ächzte die Maschine, dann sprang sie fauchend an. Über ihnen begannen sich die riesigen Rotorblätter zu drehen. Der Pilot drehte den Motor auf, die Rotoren wurden beschleunigt, und der Hubschrauber stieg auf, neigte sich leicht nach vorn und flog über das Feld davon. In geringer Höhe ging es aufs Meer hinaus. Dann änderte der Pilot leicht den Kurs, folgte kurz der Küste nach Honolulu, um dann nach Südost abzudrehen, auf Molokai und Maui zu. Vierzig Minuten später spähte Pedro Santiago durch die Plexiglaskuppel hinab, während der Helikopter über die zerklüftete Südwestküste Mauis hinwegflog und die dunkelblaue Meeresfläche plötzlich dem undurchdringlichen grünen Dach des Regenwaldes wich. Der Helikopter ging herunter, bis es Santiago so vorkam, als würde er gleich die Baumgipfel berühren. Dann teilten sich die Bäume und gaben eine Lichtung frei, auf der mehrere Häuser mit grünen Dächern standen. Wäre der Hubschrauber nicht so niedrig geflogen, hätte man die Ansiedlung aus der Luft kaum bemerkt. Schnell und geschickt landete der Pilot auf einem Rasenstück, das von Gebäuden umgeben war. Als Santiago seinen Gurt löste und die Tür neben sich öffnete, trat ein Mann aus einem der Gebäude, kam jedoch nicht auf den Hubschrauber zu. Santiago erkannte in dem Mann sofort seinen Auftraggeber, auch wenn er ihn nie zuvor gesehen hatte. Er zog den Kopf ein, als er unter dem Luftwirbel der Rotorblätter über den Rasen lief. Den Louis-Vitton-Koffer hielt er mit beiden Händen fest. »Mister ... Jennings«, sagte der wartende Mann und zögerte vor dem Codenamen lange genug, um Santiago merken zu lassen, wie lächerlich er ihn fand. Santiago war es egal. Falschen Namen verdankte er, dass er immer noch lebte und ein fettes Bankkonto in der Schweiz besaß, von dem fast alle Männer, die in den Slums von Sao Paulo geboren waren, nur träumen konnten. Er nickte kurz, folgte dem Mann in das Haus und einen Flur entlang in ein kleines fensterloses Zimmer, in dem nur ein kleiner Tisch stand, darauf ein ebensolcher Koffer, wie Santiago ihn trug. Der Mann deutete auf den Tisch, und Santiago stellte den Koffer darauf ab. Dann öffnete er das Schloß des Duplikats und hob den Deckel. Obwohl er sicher war, dass die ganze Summe vorhanden war, nahm er sich die Zeit, das Geld zu zählen. Es handelte sich um Fünfzig-Dollar-Scheine, wie er es verlangt hatte. Es interessierte ihn nicht besonders, ob die Seriennummern fortlaufend waren oder nicht, aber als er zu zählen begann, merkte er, dass dies nicht der Fall war. Mit wem auch immer er es hier zu tun hatte, der Betreffende wusste offenbar, was er tat. Als er das Geld gezahlt hatte, schaute er auf. »Zweihunderttausend.« »Wie vereinbart«, bestätigte der Mann. Pedro Santiago verstaute das Geld wieder im Kosmetikkoffer, änderte die Kombination und ließ die Schlösser zuschnappen. »Dann wäre das erledigt.« Der Mann nickte und streckte die Hand aus. Santiago ignorierte die Geste und ging durch die einzige Tür wieder auf den Flur hinaus. Der Mann schien das zu akzeptieren und begleitete Santiago zum wartenden Hubschrauber. Er wartete, während der Kurier einstieg und sich anschnallte. Als die Maschine sich erhob und wieder aufs Meer zuflog, stand der Mann noch immer vor dem Haus. Kaum war er aus Pedro Santiagos Blickfeld verschwunden, dachte der Kurier bereits an seinen nächsten Job in Südafrika. Diese Sache würde sicherlich um einiges interessanter werden als dieser langweilige Deal. Nachdem der Hubschrauber am grünen Horizont des Regenwaldes verschwunden war, kehrte der Mann in das Gebäude zurück und machte die Tür hinter sich zu. Er ging wieder in das Zimmer, wo er die Transaktion mit dem Kurier getätigt hatte, den er nur als »Mr. Jennings« kannte. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, öffnete er den Kosmetikkoffer. Als er den Deckel hob, zitterten seine Hände ein wenig. Im Koffer lag nur ein einziges Objekt. Ein Totenschädel. Die leeren Augen starrten ihn an. Die kleine Alarmglocke in Pedro Santiagos Kopf begann zu läuten. Seine Nackenhaare sträubten sich. Gefahr! Der Hubschrauber war sieben Kilometer von der Küste Mauis entfernt, und auch wenn er nicht wusste, was diesen inneren Alarm ausgelöst hatte, spürte er doch, dass sich irgend etwas in der Kabine verändert hatte. War etwas mit dem Piloten ? Er war sich nicht sicher. Ohne sich anmerken zu lassen, wie angespannt er war, sah er aus den Augenwinkeln zu dem Piloten hinüber, aber der Mann blickte starr geradeaus und schien glatt vergessen zu haben, dass er einen Passagier an Bord hatte. Oder suchte er nach etwas? Santiago wandte sich ebenfalls nach vorne und ließ seinen Blick über das Panorama von See und Inseln schweifen. Auf dem Ozean schwammen ein paar Boote, und bis auf ein einsames Flugzeug in der Ferne war der Himmel leer. Aber Pedro Santiagos innere Alarmglocke schrillte immer lauter. Er erstarrte förmlich, obwohl er immer noch nicht wusste, worin die Gefahr bestand und aus welcher Richtung sie kam. Wieder sah er den Piloten an, und diesmal bemerkte er, wie angespannt der Mann auf seinem Sitz saß. Er hatte die Augen zusammengekniffen und umklammerte den Steuerknüppel des Hubschraubers. Plötzlich wurde das Flackern einer Bewegung im runden Plexiglas reflektiert, so schnell und verzerrt, dass Santiago es fast nicht mitbekommen hätte. Aber dann wusste er Bescheid. Hinter ihm! Jemand war hinter ihm. Doch es war bereits zu spät. Pedro Santiago wollte sich gerade umdrehen, als der Mann, der während des Aufenthalts auf der Lichtung in den Hubschrauber geklettert war und sich dort versteckt hatte, mit einer Hand die Tür neben Santiago aufriß und mit der anderen seinen Sicherheitsgurt löste. Im gleichen Augenblick riß der Pilot seinen Steuerknüppel herum, und der Hubschrauber neigte sich steil nach rechts. Noch bevor er ganz begriffen hatte, was geschah, raste Pedro Santiago in freiem Fall auf das Meer zu, das hundert Meter unter ihm leuchtete. KAPITEL 3 Michael blickte auf die Inseln hinunter, die aus dem scheinbar unendlichen Blau des Meeres auftauchten. Drei Monate! Drei lange Monate! Was sollte er hier drei Monate lang machen? Ein, zwei Wochen, klar. Aber ein Vierteljahr? Er konnte es noch immer kaum glauben, dass seine Mutter ihn von der Schule genommen hatte, kurz vor seiner Aufnahme ins Leichtathletikteam. Immerhin konnte er sich denken, warum sie es getan hatte. Der Schnitt und das blaue Auge hatten sie sicherlich in ihrem Entschluß bestärkt. Wenn es ihm an jenem Tag gelungen wäre, Slotzky zu entwischen ... Aber er war ihm nicht entwischt, und deshalb war er jetzt hier, mitten im Ozean. Er kannte hier niemanden und hatte nie zu denen gehört, die schnell Freundschaften schlossen. Immer hatte er Angst gehabt, dass sein Asthma ihm irgendwie im Weg stehen könnte. Was also sollte er tun, solange seine Mutter an der Ausgrabungsstelle arbeitete? Nach dem, was sie erzählt hatte, gab es nicht mal eine größere Stadt auf Maui - nur ein paar Ortschaften, und sie würden nicht einmal in einem dieser Orte wohnen. Andererseits sah die Insel wirklich wunderschön aus, und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass seine Mom ihm doch noch erlauben würde, einen Tauchkurs zu machen. Jetzt erinnerte er sich daran, dass sein Vater ihm versprochen hatte, mit ihm zu tauchen, sobald er kräftig genug wäre, die Flaschen zu heben. Aber dann ... Das Bild des brennenden Flugzeugs, in dem Tom Sundquist gestorben war, stieg in Michael auf, und er spürte das flaue Gefühl im Magen, das er jedesmal empfand, wenn er sich an den Morgen erinnerte, an dem sein ganzes Leben buchstäblich vor seinen Augen explodiert war. Und gerade jetzt, als sich die Dinge wieder etwas zum Guten zu wenden schienen, musste er mit seiner Mom zu diesem Flecken am Ende der Welt fliegen. »Darf ich wenigstens tauchen lernen?« fragte er und sah aus dem Fenster auf die Insel hinab. Die traurige Stimme ihres Sohnes versetzte Katharine einen Stich. Es war ihr nicht ganz gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass diese Sache ein einziges großes Abenteuer werden würde. Aber immerhin hatte er schließlich zugestimmt und sich darauf verlegt, sie zu überreden, dass sie ihn tauchen lernen ließ. Anstatt sofort und strikt nein zu sagen, hatte sie den bequemen, aber feigen Ausweg gewählt. »Wir werden sehen«, wiederholte sie auch jetzt wieder, nicht ohne sich zu fragen, wie lange sie den Streit noch hinauszögern konnte, der unweigerlich kommen würde, wenn sie ihm klipp und klar sagte, dass sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, wie er dreißig Meter unter Wasser sein Leben riskierte. Aber daran, wie er bei ihrer Ausflucht das Gesicht verzog, merkte sie, dass er die endgültige Antwort bereits kannte. Auch um das Thema zu beenden, beugte sie sich über ihren Sohn und blickte interessiert aus dem Fenster. Eine Inselkette breitete sich unter dem Flugzeug aus. Es war ein vollkommen klarer Tag, und ein schneebedeckter Berggipfel erhob sich glitzernd vor einem Himmel, der noch blauer zu strahlen schien als das Meer. Während das Flugzeug herunterging, sah man die Inseln immer deutlicher, und dann hörten sie in den Lautsprechern die Stimme des Piloten: »Rechts haben wir heute eine wunderbare Sicht auf Oahu. Die Passagiere auf der linken Seite können die Gipfel des Mauna Kea und des Mauna Loa auf der Großen Insel von Hawaii erkennen. In ein paar Minuten können wir in die Krater des Mauna Lao auf der Großen Insel und des Haleakala auf Maui schauen. Sie werden mühelos erkennen, welcher von beiden Vulkanen aktiv ist.« Als das Flugzeug seine Höhe weiter verringerte, sah Katharine, wie der Rauch aus einer der aktiven Spalten an der Flanke des Haleakala aufstieg, aber dann lauschte sie wieder der Stimme des Piloten. »Während wir Maui umfliegen, können die Passagiere auf der rechten Seite die Südwestküste der Insel sehen. Hier erstrecken sich die Ferienorte Wailea und Kihei, und viele Leute - darunter auch ich - meinen, dass es dort die schönsten Strände aller Inseln gibt. Denen, die hier Urlaub machen wollen, möchte ich ein erstes Aloha zurufen. Den Glücklichen, die hier leben - willkommen zu Hause.« Das Flugzeug sank weiter und legte sich in die letzte Kurve. Durch das Fenster sah Katharine die Küste, die sich nach Lahaina wand, und dann kamen die wild zerklüfteten, in Grün gehüllten Vorsprünge der Berge West-Mauis in Sicht. Über dem Boden des Tals lag ein grüner Teppich. Das Flugzeug landete, wurde langsamer und blieb nach einer Kurve vor dem langen, niedrigen Flughafengebäude von Kahului stehen. Kaum stand die Boeing 747, als Michael schon aus seinem Sitz gesprungen war. Er schob sich an Katharine vorbei, um nur ja schnell ihre Reisetaschen aus den Gepäckablagen über ihnen zu holen. Drei Minuten später verließ Katharine das Flugzeug und spürte zum erstenmal seit Monaten Luft auf ihrer Haut, die nicht künstlich erwärmt worden war. Schnell ging sie über die Gangway in den Ankunftsbereich. Michael stand schon vor den Glastüren, und als er sich umwandte, sah sie sein breites Grinsen. Sie holte tief Luft, während die Türen vor ihr aufglitten, und als die blumige Luft ihre Lunge füllte, kam ihr nur ein Wort in den Sinn: Sanft. Nur dieses Wort konnte die Zartheit der weichen Brise ausdrücken. Sanft. »Kein bißchen wie in New York, soviel steht fest«, hörte sie ihren Sohn sagen. Sie sah ihn fassungslos an. »Ich glaube es einfach nicht! Wir sind drei Monate im Paradies, und dir fällt nichts weiter ein als >es ist nicht wie New Yorkdu musst vorsichtig sein